„Wer niemals seine Mutter hatte, hat nie gelernt zu lieben. Wer sie nicht später mindestens einmal gehasst hat, in einem theatralischem Comeback sie zur Seite hatte, wird nie wissen, was echte Hilfe bedeutet. Man ist schon tot auf die Welt gekommen und wird als Geist sterben!“
Nachdem ich kürzlich einige Berichte über die Verwahrlosung von Kindern laß, kam mir eine längst vergessene Epoche aus meiner Kindheit wieder hoch. Auch wenn man älter wird und dann auch selbst Verantwortung in die Hand nimmt, so vergisst man nicht, wo man herkam. Und genau da bin ich wieder froh, das mir bestimmte Schicksale nicht widerfahren sind und ich letztendlich immer dankbar bin. Oh nein, es wird nun bestimmt keine Story von Herzschmerz und wo der Schmalz aus dem Blog tropft. Im Gegenteil, es wird nun andersrum …
Es handelt von einer Person aus meiner ehemaligen Nachbarschaft. Namen sind völlig unwichtig und es ist leider kein Einzelfall. Heute sehe ich es mit den Augen eines Erwachsenen Mannes und bin mir erst jetzt des schrecklichen Ausmaßes bewusst.
Am Anfang war alles friedlich und normal. Er zog mit seiner Mutter ein paar Häuser weiter ein und wir hatten ein seelenruhiges Leben. Wir spielten zusammen und niemand hätte geahnt, wie es sich mal entwickelt und was alles ans Tageslicht kommt. Er war supernett und zuvorkommend, bis es sich nach ca. einem halben Jahr änderte. Kinder streiten sich mal und testen ihre Grenzen, aber arten nie wirklich aus.
Es fing an, das sich der Wortschatz änderte. Ok, Wörter wie „Arschloch“ rutschen schon einem Kind mal raus, weil man es irgendwo aufschnappte. Dabei blieb es aber nicht und es ging dann einfach mit diversen Körperteilen und allgemein vulgären und obszönen Ausdrücken weiter. Eigentlich war das dann nur noch so. Die umliegenden Kinder distanzierten sich dann nach und nach und die Wörter richteten sich dann irgendwann auch gegen Erwachsene. Wie zu meiner Zeit noch üblich, wurde das nicht nur mit Strafaufgaben, sondern auch mit körperlicher Gewalt versucht einzudämmen. Das brachte aber maximal nur das Gegenteil ein, denn gewisse Gewalttätigkeiten richteten sich nicht nur gegen uns, sondern auch gegen Erwachsene. Genau genommen war man einfach nur machtlos. Dieses Kind kannte absolut keine Grenzen mehr und niemand wusste weiter. Erst kümmerten sich Eltern darum und als dies auch nichts half, ganz offiziell das Jugendamt. Nach diversen Gesprächen mit der Mutter und den Eltern wurde festgestelt, er muss in der kalten Küche auf der Sitzbank schlafen. Ok, also neue Wohnung besorgt, welche genug Lebensraum bietete. Alles schien wieder in Ordnung zu sein? Nein!
Nach einer kurzen Ruhepause fing es wieder an und diesmal weitaus heftiger. Auffällig war u.a. dass er bei Buchvorstellungen, was man jedes Jahr machen musste, immer das gleiche hatte.
Wir beide wohnten nun fast zusammen und bauten aber trotzdem eine gewisse Bindung auf. Anfangs blieb ich mehr oder minder verschont von ihm. Wie es so üblich ist, bringt man im Krankheitsfall die Hausaufgaben vorbei. Und ich war erstaunt, als ich es das erstemal tat. Alle supernett, auch die Mutter und man merkte wirklich gar nichts von Problemen.
Nur fing es später an, dass das Kidn in der Schule nichts vernünftiges zu Essen hatte. Man dachte lange, er geht nur nicht sorgsam damit um und man versuchte es mit erzieherischen Maßnahmen abzustellen. Als er dann anfing, am sonntags bei Mitschülern zu klingeln und fragte ob er mitessen darf, wurde man dann allerdings wiederum aufmerksamer. Wieder war das Jugendamt zur Stelle und forschte genauer nach. Nun kam alles ans Tageslicht und konnte nicht mehr verdrängt werden.
Fazit: Die Mutter war Alkoholikerin und hatte eigentlich immer mal einen anderen Mann. Für das Kind nie Zeit. Bis zu jenem Tag, ich selbst noch ein Kind, leibhaftig miterleben musste. Wollte ihn abholen und seine Mutter stinkbesoffen nur am Brüllen. Er solle Bier holen. Egal wie und wo. Mit einem Beutel in der Hand, noch Hausschuhe an, keine Jacke, wurde er im tiefsten Winter losgeschickt. Es schneite an jenem Abend ganz schön und war sehr. Ich fragte ihn noch ob ich nicht noch Sachen holen soll und er lehnte ab: „Wer richtig hart sein will, muss das können“ meinte er sinngemäß.
Wir liefen mit und holten den Stoff aus einer Gaststätte.
Ich hatte das nie zu Hause erzählt und hatte das wohl einfach verdrängt, weil ich sowas einfach nicht kannte. Ich denke schon, das mich dieses Erlebnis mit traumatisierte, weil ich es vergessen hatte.
Es wurde eigentlich immer schlimmer damit. Wie damals eben üblich, konnte man auch in der Schule vom Lehrer Prügel bekommen. Nein, ich meine nicht nur eine Ohrfeige. An was ich mich noch erinnern an, war das an den Haaren ziehen und mit den Kopf vor die Tafel stauchen. Man kann sich vorstellen wie die anderen Mitschüler reagierten. Entweder war man eingeschüchtert und versuchte ja nicht aufzufallen, oder man gab eben der Show Beifall und applaudierte mit. Ansonsten wäre man wohl auch noch aufgefallen.
Es eskalierte derart, das man nun selber bestohlen wurde und in Prügel mit einbezogen wurde. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was hatte ich ihm getan, das er grundlos schlägt? Manchmal war es einfach nur Zufall. Man lief ihm über den Weg und es ging schon los. Je netter man versuchte auf ihn einzureden, umso schlimmer wurde er. Es juckte ihn überhaupt nicht, ob ältere und stärkere Kinder, oder Erwachsene dabei waren. Egal ob man eine zurück bekommt, wenigstens einmal mitten in die Fresse rein. Es war leider so! Das führte letztendlich dazu, das man entweder von der Schule abgeholt wurde, er eine Begleitung erhielt oder man am Nachmittag gar nicht mehr rausging oder eben mit dem Rad auf einen anderen Spielplatz fuhr.
Später kam er dann gar nicht mehr zur Schule und wenn er mal da war, konnte keine Stunde mehr vernünftig unterrichtet werden. Auf den Pausenhof konnte man ihn auch nicht lassen und es tauchte auch mal die Polizei auf. Bis zu jenem Tage im Unterricht, bis er sich mit der ganzen Klasse anlegte. Samt Klassenlehrerin konnten wir nicht mehr ertragen. Hatten wir gerade den Erlkönig dran und er störte einfach jeden der vorn stand. Das war das Ende! Er wurde geholt und kam in das Kinderheim! Es war ein Befreiungsschlag für uns alle! Wir konnten wieder ruhig leben.
Eines werde ich nie vergessen, seine Augen und sein Gesicht! Gläserne Augen und dieser grinsende Blick. Wie eine Maske. Es war auch diese Unberechenbarkeit, die einem dauernd Angst machte. Er konnte einfach so aus dem Nichts ausrasten und um sich hauen! Es war kein Mensch mehr. Genau genommen hatten wir es damals mit einem toten Menschen zu tun. Wie ein Geist der ruhelos umherirrt und keine Grenzen mehr hat.
Als er wiederkam, war seien Mutter inzwischen schwerstabhängig und wir schon im Jugendalter. Er war nicht wirklich mehr ein Schläger, aber eben in die Kriminalität abgerutscht. Man konnte aber wenigstens wieder mit ihm reden, egal was mal war.
Wir verloren uns aus den Augen und man hörte wenn, nur vom Hören und Sagen nochwas von ihm. Bis ich ihn Jahre später wieder traf. Er sprach mich an und wir unterhielten uns. Und da ist was passiert, was ich nie für möglich gehalten hätte. Er ist nun selber Familienvater und hat sein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Schon die Art zu reden und mit anderen zu kommunizieren war wie eines echten Erwachsenen. Wenn man ihn heute sieht, würde das niemand glauben, was mal war. Er ist ein Mensch wie du und ich geworden! Es hatte mich riesig gefreut, was er jetzt alles macht und hab ihm das auch kundgetan. An jenem Tag war es das beste Gespräch was ich hatte!
Dieses grinsen wie eine Maske war zu einem freundlichem Lächeln geworden. Allerdings sind da immernoch diese glasigen Augen! Die Narben werden eben immer zu sehen sein! Bei der Frage nach seiner Mutter hatte ich den Eindruck, er hatte meine Frage nicht verstanden und wich auf ein anderes Thema aus und meinte nur: Keine Ahnung!
Nun haben wir also doch dieses schmalzige Happy End! Nun, ich kenne noch weitere Fälle, welche ich aber nie so intensiv und extrem selber miterlebt hatte. Ich sage nur kurz: 3 Tage ins Zimmer sperren, einizige Nahrung Zwieback und Haare mit Spülmittel waschen, während der Hund das gute Shampoo bekommt.
Es gibt keine Einzelfälle, auch heutzutage leider nicht!
Je mehr ich darüber nachdenke, umso dankbarer bin ich meinen Eltern für alles. Ich meine sie hatten es gewiss auch nicht immer einfach mit mir und ich ehrlich gesagt umgekehrt auch nicht. Aber ich durfte glücklich und zufrieden aufwachsen und in jeder noch so großen Krise, waren sie immer da und andersrum auch. Gerade in meiner frühkindlichen schweren Krankheitsphase, hatte ich im Krankenhaus immer eine Mutter und keine MUTTER am Bett sitzen! 😉
Diese Bindung ist etwas sehr wertvolles und ich möchte die auch nicht missen und genau das gibt man seiner Nachwelt weiter.
Ich habe absolut kein Verständnis und schon gar kein Mitleid mit Eltern, welche Kinder in die Welt setzen, als seien sie Statussymbole und dann runterkommen lassen. Klar, das ein Kind ungewünscht zur Welt kommt, kann trotzdem passieren, aber dann muss man sich der Verantwortung stellen, egal wie sie aussieht. Ich glaube liebend gern, dass das Vergnügen ne Menge Spaß macht, nur muss man noch soviel Verstand haben, um auch richtig vorzusorgen und im richtigen Moment nachzudenken.
Es gibt nicht immer so ein Happy End. Es passiert nahezu jeden Tag. Erst kürzlich wieder wie ich erfahren habe.
Andere bleiben ihr Leben lang tot an Emotionen und man braucht sich nicht zu wundern, wenn Psychopathen gezüchtet werden. Wenn Menschen schon als Kinder tot durch die Gegend laufen, sind sie Geister. Wer kann schon Geister später besiegen?
Jenau!